Der Akt des Betrachtens, Drama des Sehens
Da liegt sie, ganz lockendes Fleisch. Fordernd bietet sie sich in ihrer üppigen Nacktheit an. Unmissverständlich. Kein Anflug von schamhaftem Verstecken, kein sich vom männlichen Auge überrascht aufgeschreckt zeigen. Diese Frau ist keine keusche Diana an der Quelle, keine keusche Susanna im Bade. Nackt zeigt ihr Fleisch ihr Begehren. Sie will auch nicht naiv witzig spielen, tändeln, andeuten, sich entziehen. Fragonard etwa lässt einen weißlockigen Schoßhündchenschwanz zwischen den Schenkeln mit Grübchen seiner Schönen baumeln, und macht so dem Betrachter klar, was die jungen Frauen selbst nicht so genau wissen.
Der von Corinth gemalte Akt ist eindeutig: hier spricht einzig das Fleisch, brünstig bedrohlich. In den blutunterlaufenen, wie maskiert wirkenden Augen der Frau leuchtet, irrlichtert ein Vorschein der erwarteten Liebesekstase. Das Objekt des Begehrens ist der Mann – geht man von der heterosexuellen Matrix des Motivs aus – der von diesem nackten Fleisch zum Liebesakt verführt, nein eigentlich überwältigt werden soll. Auf diese Entblößung des weiblichen Begehrens gibt es nur eine mögliche Antwort. Dem Anruf soll er gehorchen; ihr zu Willen zu sein ist alternativlos.
Das ist keine glatte, reizend verniedlichende „Marzipanvenus“, wie Zola die berühmte, klassizistischste Geburt der Venus (1863) von Alexandre Cabanel beschimpfte. Wenig bedrohlich, sich hübsch schamhaft räkelnd, dem Mann vom Leib bleibend wurde diese Venus zur Vorlage glatter Pin Ups. Corinths Akt hat nichts von der kühlen Ebenmäßigkeit nackter Marmorstatuen. Kein Reispuder idealisiert das Fleisch zu vollkommen glattem Marmor oder macht es wie Pin Ups als plastikartiges Fleisch konsumierbar. Dieses Fleisch lebt, ist zum Anfassen, ja es bebt begehrend heiß. Es hat nichts Geglättetes, nichts kühl Sublimiertes. Die Pinselstriche, gut sichbar, unterstreichen seine Materialität. Nicht den Umriss, das Inkarnat sehen wir zuerst. Die blonden Haare der Frau gehen in den Untergrund über. Es ist, als habe sich hier nichts aus seiner erdhaften Materialität gelöst: als Urgrund der Lust sind runder, voller Busen und der runde Bauch im Fokus. Der Schoß bleibt im Schatten üppiger Schenkel. Un-ideal und un-akademisch, gierig ist dieses Fleisch in seiner Nacktheit schockierend. Es übertritt die Konventionen der Kunst und kommt nahe, zu nahe?
Me too
„Joseph und Potifars Frau“ ist eine Geschichte aus dem Alten Testament (Gen. 39, 1-20). Der Herrgott ist mit Joseph, dem hebräischen, nach Ägypten an Potifar, den Chef der pharaonischen Leibgarde verkauften Sklaven. Alles gelingt Joseph; Potifar vertraut ihm, überlässt ihm das Management des Hauses und kümmert sich nur noch um sein Essen. Die Frau des Potifars, berückt von Josephs herausragender Schönheit, hat einen Blick auf den jungen Mann geworfen und will ihn ins Bett kriegen: „Schlaf mit mir.“
Joseph widersteht: „Er weigerte sich und entgegnete der Frau seines Herren: Du siehst doch, (...) alles, was ihm gehört, hat er mir anvertraut. Er ist in diesem Haus nicht größer als ich und er hat mir nichts vorenthalten als nur Dich, denn du bist seine Frau. Wie könnte ich da ein so großes Unrecht begehen und gegen Gott sündigen“ (Genesis 39). Joseph behandelt die Situation als Besitz- und Vertragssache: Potifars Frau gehört zum Haus, ist vertraglich gebunden. Joseph will keine Verträge brechen und etwas, das ihm nicht gehört, rauben. Von Begehren verzehrt, gibt Potifars Frau nicht auf, und greift Joseph eines Tages beim Gewand, um ihn ins Bett zu ziehen. Davon ist bei Corinths Akt eine greifende und eine schattige, abwehrende Hand übriggeblieben. Joseph ist ihr nicht zu Willen, lässt das Gewand zurück und macht sich davon. Das zurückgelassene Gewand dient der gedemütigten, verschmähten Gattin dazu, den Sklaven Joseph als übergriffig darzustellen und bei ihrem Mann zu denunzieren. Der glaubt seiner Frau und lässt Joseph ins Gefängnis werfen.
Die Potifar-Geschichte ist durch die Kulturen und Religionen hindurch der Archetyp weiblichen, zügellos sinnlichen Begehrens nach junger Männerschönheit geblieben. Corinth inszeniert dessen Reiz und Schrecken. So finden wir die Geschichte von der altpersischen Literatur und dem Alten Testament bis zum Koran. Die berückende Schönheit Josephs führt unter den Frauen in der 12. Sure des Korans dazu, dass diese sich, hin und weg, beim Früchteschälen schneiden. Bis zum 18. Jahrhundert galt die Frau als schwächer im Fleisch. Willenlos erlag sie angeblich Versuchungen, derer der stärkere Mann Herr wurde. Die quälende Sehnsucht nach dem schönen Joseph leuchtet die Bibel nicht aus. Erst Thomas Mann hat die Liebesheimsuchung in seiner Josephsgeschichte einfühlsam ausgemalt. Der Dichter Rumi hat in der islamischen Mystik die Frau des Potifar nicht als sündige Versucherin verdammt; er sieht sie als die wahre Liebende, die ihre Vernunftehe zurücklassen will, um zur wahren, göttlichen Schönheit, die in Joseph aufleuchtet, zu finden.
Lovis Corinth hat die Episode nicht als erster und auch gleich mehrfach unter diesem Titel zwischen 1914 und 1915 gemalt. Eine Skizze in Washington und auch das Gemälde im KaiserWilhelm-Museum in Krefeld zeigen nur noch in Spuren das Narrativ des Geschlechterkampfes: wie ein dunkles Gespenst weicht Joseph angstvoll zurück. Im Vordergrund ist der lustvolle, weibliche Akt. Das unterscheidet seine Bilder von anderen Darstellungen, in denen es zwar oft um eine halbnackte oder nackte Frau im Bett geht, wo die Szene jedoch hochdramatisch narrativ ausgemalt wird: ein den Ehebruch fliehender junger Mann, der als corpus delicti zurücklässt, was die verschmähte Ehefrau gegen ihn verwendet – ein juristisches Plädoyer um Ehebruch, versuchte Vergewaltigung, Schuld und Lüge. So zum Beispiel bei Rembrandt.
Meisterschaft der Beherrschung: Das nicht mehr nur schöne Fleisch
Corinths weiblicher Akt lässt dagegen, entlastet von aller Narrativik, allein das Fleisch gelten und für sich sprechen. Das Drama ist ganz in den Akt der Betrachtung verlegt. Lucian Freud und Jenny Saville stehen in der Tradition dieser Aktmalerei. Aber hier kippt die pure Fleischlichkeit, die sich nach Corinths Vorbild richtet, oft genug ins Abstoßende. Corinth beherrscht den schmalen Grat zwischen Bedrohung und Versuchung, zwischen Schönheit und Verworfenheit eines überwältigenden Begehrens meisterhaft und beglaubigt diese Meisterschaft durch seine Signatur.
Von Barbara Vinken Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München
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