Bestechend schön
Das verborgene Zusammenleben von niederen Tieren rund um die Distelpflanze gehörte neben feinmalerischen Vogeldarstellungen zu den bevorzugten Motiven des Brüsseler Künstlers Carl Wilhelm de Hamilton. Das Gemälde entstand vermutlich in Süddeutschland, wo de Hamilton ab 1719 am Hof des Augsburger Fürstbischofs Alexander Sigismund von der Pfalz-Neuburg (1663 - 1773) tätig war.
Zu de Hamiltons bekanntesten Werken zählen eine Reihe von Vogel-Darstellungen, die ihrem Titel nach Geoffrey Chaucers 100-strophiges Gedicht „Das Parlament der Vögel“ aus dem späten 14. Jahrhundert aufgreifen. Chaucers lyrisches Vogelparlament als eine Allegorie für das Zeremoniell der Partnerwahl am Valentinstag rezitierte de Hamilton in seinen Gemälden mit einem artenreichen und bunten Vogel-Durcheinander in einer Uferlandschaft. Das vorliegende Gemälde ruft jene Werkreihe mit einer reduzierten Vogel-Besetzung in Erinnerung. Eine männliche Spießente, die in Mitteleuropa selten und nur als Wintergast anzutreffen ist, schwimmt hier in Ufernähe bei einem Blässhuhn, während über ihnen ein prächtiger Eichelhäher in die offene Landschaft aufsteigt. Neben zwei sich überkreuzenden Weiden sind auch ein stehender Weißstorch und eine fliegende Stockente im Hintergrund erkennbar. Die Blickrichtung und Auswärtsbewegung der Vögel kennzeichnen jedoch die große Distelstaude als das zentrale Bildelement. Die Tierdarstellung wird durch diese Pflanze mit ihren kriechenden und flatternden Bewohnern motivisch um ein weiteres Spezialgebiet des Künstlers ergänzt: Das Waldbodenstück, eine besondere Form der Stillleben-Malerei, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts maßgeblich durch den Niederländer Otto Marseus van Schrieck geprägt wurde und sich der Darstellung von lebendigen niederen Tieren wie Schlangen, Eidechsen und Insekten in ihrem natürlichen Habitat widmet. In de Hamiltons Gemälde wimmelt es rings um die prächtige Distelstaude, die fast die gesamte Bildhöhe einnimmt, von vielerlei niederem Getier: Eine Ringelnatter nähert sich aus dem dunklen Dickicht im Hintergrund bedrohlich einer Eidechse, die sich um ein stacheliges Distelblatt windet. Daneben steuert eine kleine Schnirkelschnecke auf einem riesigen Blatt langsam auf das Geschehen zu, während unterschiedliche Schmetterlinge kreuz und quer um die Pflanze schwirren. Letztere wurden oftmals durch das Abklatschverfahren ins Bild übertragen. Bei dieser Technik drückte der Künstler echte Schmetterlinge auf die feuchte Untermalung, deren bunte Flügelschuppen beim Abziehen dann kleben blieben. Somit mussten nur Kopf, Körper und Beine gemalt und die Konturen nachgezogen werden — die farbigen Flügelmuster gingen mit der Zeit jedoch meist verloren.
Bei der hier abgebildeten Distelart könnte es sich um eine „Eselsdistel“ handeln, die seit dem 13. Jahrhundert die Wappenpflanze Schottlands und der Stuarts ist. Carl Wilhelm de Hamilton, der den Spitznamen „Distel-Hamilton“ erhielt, könnte mit dieser Pflanzenart auf seine familiären Wurzeln in Schottland hingewiesen haben.
Das Zusammentreffen der Tiere in der Natur hat eine moralische Komponente, denn die „niederen Lebewesen“ wurden mit einer christlich geprägten Symbolik verknüpft, die ihre jeweilige ethische Position im „Kampf ums Überleben“ bestimmt. Dem Bildthema lagen auch naturphilosophische Fragestellungen zugrunde, da die Art und Weise der Entstehung von niederen Lebewesen wie Schnecken und Pilzen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch nicht eindeutig geklärt war. Parallel zu verschiedenen Theorien, wie etwa der aristotelisch geprägten Lehre von der Entstehung bestimmter Lebewesen aus dem Schlamm heraus (Spontanzeugung), gab es auch ein wachsendes naturwissenschaftliches Interesse und neue mikrobiologische Erkenntnisse. Die detaillierte Naturbeschreibung mit einer zugleich „erfundenen“ Anordnung der einzelnen Lebewesen entspricht einer typisch barocken Inszenierung, die in ihrer Vielschichtigkeit einem Bilderrätsel gleicht.
Von John Ballack
Das NEUMEISTER Magazin No. 13/24