Panorama-Vase KPM Berlin, um 1831/1834 — ein Staatsbild auf Porzellan
Man kann die aus Wittelsbacher Besitz stammende Panorama-Vase mit dem Straßenpanorama – nicht eigentlich einem bloßen Prospekt – als eine Reiseeinladung verstehen, als Verführung in das sogenannte Spree-Athen, in dem man alles hatte: Geschichte und Gegenwart, Baukunst und Stadtordnung, Bürgertum und Hof, Gelehrte und Mächtige. Die Stadt, ihr Hof und ihr Bürgertum stellen sich dar und vor, zeigen Pracht, Potenz und Potenzial. Es ist ein Blick in ein Goldenes Zeitalter, auch wenn dieses als Biedermeier bezeichnet wird und oft als eng gilt, weil Zensur herrschte, Patriotismus in Regionalismus verfiel und das geteilte, zersplitterte Deutschland keine Weltoder Handelsmacht war. Doch im Kleinen lag die Größe. Die Vase mit gut einer Elle Höhe (im damaligen Maß) stellt ihren Besitzer in die Mitte von Macht und Geist: Das ist ein enormer Anspruch, eine ideale Botschaft. Berlin, Hauptstadt des seit Friedrich dem Großen sich durch einen Schwenk vom Militärischen zum Aufklärerischen wandelnden Preußen, in dem selbst Voltaire eine Zeitlang lebte, wurde Weltstadt. Gewiss bedurfte es dafür etlicher Schritte, aber die Vase dokumentiert das grandiose Ergebnis dieser Metamorphose.
- Kunstwerk: Panorama-Vase "Unter der Linden", Auktionslos Nr. 51.
- Hersteller: Königliche Porzellanmanufaktur KPM Berlin.
- Jahr der Herstellung: um 1831/1834.
- Grösse: 63 cm hoch.
- Stil: Realismus.
- Genre: Stadtlandschaft.
- Technik: Aufglasure Bemalung.
- Материал: Porzellan.
- Literatur: Vgl. Wittwer, Samuel, Raffinesse & Eleganz. Königliche Porzellane des frühen 19. Jahrhunderts aus der Twinight Collection New York. München 2007, Nr. 112.
- Auktionskatalog: Kunst im Exil: Die Wittelsbacher in Sárvár.
- Versteigerer: Kunstauktionshaus Neumeister, München.
Seit 1820 war für alle, die Berlin kennenlerne wollten, die „Lindenrolle“ käuflich verfügbar, ein acht Meter langes Streifenpanorama mit allen Fassaden der Bauten vom Berliner Stadtschloss bis zum Brandenburger Tor. Darauf konnte man – im Fauteuil sitzend – den Boulevard „abschreiten“, an sich vorbeirollen lassen wie aus einem Gefährt heraus, und dieser koloriert erhältliche Druck wurde sogar mit einer Kapsel verkauft: Das filmische Element war vor der Erfindung des Films in den Dienst des Tourismus getreten. Die Vase aus dem Besitz der Wittelsbacher hingegen bewegt nicht den Menschen an den Fassaden entlang, sondern bietet, wenn man sie auf einem drehbaren Sockel aufstellt oder sich um sie herum begibt, einen Rundumblick von einem Ort aus. Dieser Rundumblick ist der Liebe zum Panorama geschuldet, das in jenen Jahrzehnten als Unterhaltungs- und Bildungselement florierte und für das es in Berlin sogar ein eigenes, von einem Mitglied der Familie Gropius errichtetes Gebäude gab.
Der panoramatische Blick auf dem Bauch der Vase ist mit perspektivischem Kalkül auf die gekrümmte Fläche projiziert. Der Betrachter steht, wo er oder sie heute nicht mehr stehen sollte, wenn die Freude an der Vase nicht gar zu kurz werden soll und man nicht überrollt werden will, nämlich auf der Straßenmitte Unter den Linden in Berlin. Rechts und links fluchtet der Blick in die Tiefe der Querachsen, vor und zurück geht er auf das östliche gelegene Stadtschloss und in die Tiefe der Straße Unter den Linden bis zum westwärts stehenden Brandenburger Tor.
Die Vase ist besonders, wenngleich kein Einzelstück. Eine vergleichbare, fast gleich hohe Vase aus den Jahren 1829/32 mit ebenfalls radiertem Golddekor ist beispielsweise nicht auf rundem Fuß, sondern auf quadratischer Plinthe montiert. Derartige Ziervasen sind häufiger mit einem kleineren Bildfeld und überdies mit unterschiedlichem Dekor nachweisbar, das aus umfangreicher Vergoldung oder – wie hier – in Kombination mit Farbflächen bestehen kann. Als Dekor findet man Ranken, Blattwerk, Palmetten, also das ganze Sortiment des Klassizismus. Auch die Kombination mit einem satten Blauton ist nachweisbar, ferner die Blaumarke des Szepters in Kombination mit weiteren Marken.
Bemerkenswert erscheint die ausgewogene Form des Vasenkörpers, die Eleganz des Dekors, erfektion des Handwerklichen von der Vergoldung bis zur Porzellanmalerei. Meist sind solche Vasen aus Fuß und Korpus montiert; sie waren ja als versandfähige Souvenirs gedacht, als Geschenke für die Verwandten des Hofes, als Staatspräsent. Da man noch alles mit der Kutsche transportieren musste und für die auf Schienen rollende Eisenbahn erst in den nächsten Jahren erste Streckenabschnitte gebaut wurden, brauchte man maximale Bruchsicherheit. Da war die Möglichkeit einer Trennung von Korpus und Fuß naheliegend. In Kisten mit Holzwolle oder Sägespänen ließ sich eine solche Vase auch an die entfernten Verwandten versenden. Etwa so kann man sich vorstellen, dass das kostbare Stück aus Berlin von der Königlichen Porzellanmanufaktur an den Bestimmungsort im Süden gelangte.
Stelle man sich vor, diese Vase wurde ausgepackt und aufgestellt, so ließ sich zunächst für die Mitglieder der Wittelsbacher Familie, aus deren Besitz sie kommt, an ihre Verwandte denken, etwa an Elisabeth von Bayern, die in Berlin lebte und den preußischen Prinz Friedrich Wilhelm (IV.) geheiratet hatte. Beide führten im Berliner Schloss einen Salon, der im sogenannten Teesalon – einem von Karl Friedrich Schinkel gestalteten Raum – abgehalten wurde. Alle Berühmtheiten kamen hierher, nicht nur die Humboldts, sondern auch Künstler wie Christian Daniel Rauch, Karl Friedrich Schinkel und Christian Friedrich Tieck.
Geht man nun die Darstellung flanierend durch, so beginnt man sinnvollerweise am Sitz der Macht, am Schloss, dessen opulente Fassade noch ohne die später auf der Westseite errichtete Kuppel sichtbar ist. Der Blick passiert ein schmales Haus rechts davon, das zur sogenannten Schlossfreiheit gehört und aus zwei Vollgeschossen und einem darüberliegenden niedrigeren Obergeschoss besteht. Hieran schließt sich die Kommandantur an, das erste Haus diesseits der Brücke über den Kupfergraben. Mit großer Auffahrt versehen ist dann das noch höhere, skulptural verzierte und mit zwei Schilderhäuschen versehene Kronprinzenpalais, das im 18. Jahrhundert erbaute barocke Stadtpalais, in dem Friedrich Wilhelm zu logieren pflegte. Ein Jahrhundert später war hier die erste Filiale der Nationalgalerie, ein Ort der konsequentesten öffentlichen Zugänglichmachung moderner Kunst, dessen Direktor Ludwig Justi war und dessen Ausstrahlung nicht zuletzt die Gründung und Bestückung des Museums of Modern Art inspirierte: Nach 1919 etablierte sich hier – moderner als etwa in Paris – die Kunst der Moderne; hier hingen die Bilder Max Beckmanns und vieler anderer Künstler der Avantgarde.
Doch kehrt man in die Entstehungszeit der Vase zurück, so flaniert man weiter Unter den Linden. Das mit vier straßenseitigen Fensterachsen bescheiden erscheinende, weit in die Tiefe gestreckte Prinzessinnenpalais schließt sich an. Der kleine, verlockende Prinzessinnengarten folgt, hinter dem vor dem lichten Himmel zwei rötliche Backsteintürme mit je vier Fialen winken. Hierbei handelt es sich um die Friedrichswerdersche Kirche, einen von Schinkel entworfenen neogotischen Kirchenbau, der seit 1823 errichtet wurde. Die Kirche war 1830 vollendet; somit lässt sich die Vasenmalerei datieren. Sie entstand gewiss nicht vor 1830, vermutlich erst ab 1831, denn alles deutet auf ein vollendetes Bauwerk hin; selbst die Gerüste sind entfernt. Eine Datierung der Vase ab 1830 ist damit gesichert.
Rechts des Gärtchens findet sich die rote Kuppel der Kirche St. Hedwig, die architektonisch an das römische Pantheon erinnert und als nordalpiner Folgebau – rund und überkuppelt – zu verstehen ist. Links davon, nahe an der Prachtstraße der „Linden“, erhebt sich Christian Daniel Rauchs 1826 enthülltes bronzenes Denkmal des Fürsten Blücher, der den Fuß auf ein Kanonenrohr setzt und mit patriotischem Stolz die preußische Stadt beherrscht. Ein Umfassungsgitter schafft Distanz und einen würdigen Hoheitsraum; all diese damals üblichen Denkmaleinfassungen fielen den Metallspenden der beiden Weltkriege zum Opfer und veränderten die Wahrnehmung von Statuen, die fortan unvermittelt in urbanen Räumen aufschienen.
Nebenbei bemerkt, das Bild der Vase gibt ein Bild der Gesellschaft. Zwei Damen mit großen Hüten stehen auf der Straße; ein Halbwüchsiger hält ihnen seinen Hut bettelnd vor, was ein motivisches Wagnis in der Porzellanmalerei wäre, oder zieht er ihn vor den arrivierten Frauen? Weiter rechts stehen andere Mitglieder der Berliner Biedermeiergesellschaft, und natürlich darf auch das Militär nicht fehlen.
Wichtig ist das Königliche Opernhaus, das Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff bis 1743 errichtet hatte, das 1843 ausbrannte und heute als Nachnachfolgebau steht. Mit dem ebenerdigen Portal lädt es ein. Mit dem Portikus zeigt es Offizialität. Als nächstes sieht man beim westwärts fortgesetzten Spaziergang die Königliche Bibliothek, ein Gebäude mit barock schwingender Fassade, und dann unter dem rötlichen Abendhimmel das damals noch zweigeschossige Palais des Prinzen Wilhelm vor dem Umbau dieses stadtbildprägenden
Hauses. Der hier noch sichtbare Altbau wich ab 1834 einem schon 1837 vollendeten Neubau für den Prinzen und späteren König und Kaiser Wilhelm I., den der Architekt Karl Ferdinand Langhans errichtete. Somit hat man einen Terminus ante quem: Das Vasenbild muss spätestens 1834 entstanden sein, da in jenem Jahr der Abbruch begann. So ergibt sich die wahrscheinliche Datierung zwischen 1831 und 1834.
Dann fluchten die Bäume gen Westen; die Straße Unter den Linden mündet in den fernen Punkt des Brandenburger Tores. Davor die Flaniermeile – von Menschen besiedelt, nicht vom modernen Tourismus. Und was auch noch fehlt, ist Rauchs kolossales bronzenes Reiterdenkmal des preußischen Königs Friedrich II. Stattdessen reitet hier auf braunem Pferd ein Militär; die Stadt ist im Alltag. Der Hund hingegen erweist sich als Requisit der Vedutenmalerei; er darf nicht fehlen, denn er vermittelt maßstäblich zwischen Gebäuden und Mensch, er ist ein kleines, niedliches Drittes, der künstlerische Überraschungsschlag, wie man das seit Canaletto kennt.
Das alte Akademiegebäude auf der rechten, der nördlichen Straßenseite sowie das hufeisenförmig zur Straße geöffnete Palais des Prinzen Heinrich, damals schon Universität, und die in perspektivischer Ferne liegende Singakademie schließen sich an. Es folgt, von den zwei weißen, in den frühen 1820ern enthüllten Marmorstatuen Bülows und Scharnhorsts – wiederum von Rauch geschaffen – flankiert, die Neue oder Königswache, die schon 1818 errichtet worden war. (Am Giebel fehlt die erst nach 1842 realisierte Skulptur.) Andreas Schlüters Zeughaus liegt wie ein erratischer Block vor der Brücke, fern gefolgt vom alten Boumannschen Dom, Bewuchs und dem rechts folgenden Apothekenflügel des Stadtschlosses. Fern im Osten winkt der spitze Turm in der Altstadt, der Marienkirchturm.
Die Berliner Gesellschaft ist durch zahlreiche gut gekleidete Bürger präsent. Dieses urbane Berlin erhebt einen Anspruch: Es will ein Spree-Athen sein, eine Stadt voller staatspolitischer Aussagen. Das Schloss als Sitz der Macht ist der Ausgangspunkt für die heranrollende Staatskarosse und die Stadt. Zeughaus und Kommandantur zeugen in der Nähe des Schlosses von Wehrhaftigkeit des Staates, die Schlossfreiheit zeugt vom wohlhabenden Bürgertum. Kronprinzen- und Prinzessinnenpalais sind Echoräume der Hohenzollernmacht, gefolgt von Singakademie, Universität und Akademie auf der nördlichen sowie von Opernhaus und Bibliothek auf der südlichen Straßenseite: Hohenzollernresidenz, Militärmacht und Geisteseinrichtungen formen ein ideales Staatsgebilde: Somit gibt diese Vase nicht weniger als ein Staatsprogramm, das auf der Harmonie von Feudalmacht und Bürgertum, von Macht und Geist beruht und sich mit jüngsten Bauten als eine Stadt voller harmonischer Entwicklungspotenziale erweist.
Autor: Auktionshaus Neumeister