Weihnachtsauktion 2020 bei NEUMEISTER: Malerei des Orientalismus aus dem 19. Jahrhundert
Alber Rieger (1834—1905) war in seiner Arbeit sehr vom in Berlin geborenen deutschen Maler Bernhard Fiedler (1816–1904) beeinflusst. Der tat, was viele Wissenschaftler und Künstler zu dieser Zeit gern getan hätten: Er reiste in die ersehnte Ferne. Gefördert vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. und vom belgischen König Leopold II. unternahm Fiedler Expeditionen durch Ägypten, Palästina und Syrien – und brachte umfangreiches Material für seine Motive mit. Der Einfluss Fiedlers großformatiger Orientgemälde in romantischer Naturauffassung auf Riegers Werk ist unverkennbar. Etwa in der „Oase bei Sonnenaufgang“, die in der Weihnachtsauktion bei NEUMEISTER aufgerufen wird. Ebenfalls ein Großformat – 159 × 226 cm – und reich an Details. Im Zentrum befindet sich eine von Dattelpalmen bewachsene Oase. Die untergehende Sonne spiegelt sich im Wasser. Unter Palmen, am Wasser sitzend, eine Gruppe in orientalischer Kleidung, mit Turban und Fez, teils Pfeife rauchend. Ein Kind läuft umher. Ein scheinbar friedliches Bild. Und doch lösen die wuchernden Pflanzen eine leichte Irritation beim Betrachter hervor. Was verbirgt sich hinter der exotischen Kulisse?
Solch phantasievolle Verbildlichung fremder Welten wurde durch Napoleons Feldzug in Ägypten (1798/99) vor allem in Frankreich phantasievoll angeheizt. Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780–1867) etwa provozierte mit seinem „Das türkische Bad“ (1863): Lauter nackte Damen in einem Harem; zwei davon gar dabei, sich gegenseitig zu liebkosen. Ingres war nie im Orient; er hatte sich zu seinen freizügigen Darstellungen dieser Welt durch Berichte inspirieren lassen. Und so übernahm er in seiner Bildsprache das Klischee vom Morgenland als Ort von Dekadenz und Sinnlichkeit. Geschickt: Durch fremdländisches Interieur im Bildhintergrund verortete der Künstler auch die verruchtesten Szenen irgendwo am anderen Ende der Welt, nahm ihnen damit die Brisanz – und machte sie auch in Europa gesellschaftsfähig.
Das Interesse am Orient war grenzenlos. Populäre „Menschenschauen“ und vor allem die Weltausstellungen der Jahre 1855 und 1867 förderten den Trend. In Paris 1867 beispielsweise war der preußische Beitrag zu dieser globalen Schau ein maurischer Kiosk. Im 19. Jahrhundert ließen sich auch in Deutschland immer mehr Künstler von fernen Ländern inspirieren. Und mit dem beginnenden Orient-Tourismus fanden exotische Motive großes Interesse beim kunstinteressierten Publikum.
Maler wie Adolf von Meckel (1856–1893), dessen frühe Gemälde noch europäische Landschaften zeigen (siehe Seite 75), wendeten sich nach einer Reise durch Ägypten, Palästina oder Syrien ganz dem orientalischen Genre zu. Mit Georg Macco (1863–1933) ist ein weiterer deutscher Orientalist in der Dezemberauktion vertreten (Lot 528, 529, 713), ebenso wie der Italiener Domenico Morelli (1826–1901) mit der Zeichnung „ Sitzende Orientalin“. Zur Versteigerung kommt auch ein wunderbares Gemälde-Pärchen des französischen Künstlers Théodore Frère (1813– 1888), der sich ab 1839 ausschließlich orientalischen Sujets zuwendet. Der Mann bereiste Algerien und Syrien, Konstantinopel und Kleinasien und durchquerte die Wüste. Regelmäßig verbrachte der Künstler den Winter in Ägypten und unterhielt sogar ein Atelier in Kairo. 1869 befand sich Frère im Gefolge der französischen Kaiserin Eugénie bei deren Ägyptenreise zur Eröffnung des Suez-Kanals, eine Tour, die er in 13 Aquarellen und Gemälden der Serie „Voyage de S. M. l’impératrice Eugénie en Egypte“ festhielt.
In der Weihnachtsauktion kommen unter Lot 672 zwei Gemälde von Théodore Frère zum Aufruf: eine rastende Karawane vor den Ruinen des Tempels von Karnak und ein Kuhhirte am Ufer des Nils. Ganz in die maurische Thematik fügt sich auch Lot 674 der Tanz im Löwenhof der Alhambra ein, ein stimmungsvolles Gemälde von Wilhelm Gail (1804–1890), dem Reisen nach Italien und 1832/33 nach Spanien einen großen Motivvorrat für Gemälde und auch druckgraphische Arbeiten lieferten. 1837, dem Entstehungsjahr des zur Versteigerung kommenden Gemäldes, publizierte er beispielsweise die Lithographienfolge „Erinnerungen aus Spanien“. Die Alhambra in Granada und der dortige Löwenhof sind als Motiv auf mehreren Gemälden Wilhelm Gails nachweisbar.
Was bleibt ist Fernweh. Und da geht es uns heute kaum anders als Betrachtern von Orientgemälden im 19. Jahrhundert. Zumal die Reiseplanung in exotische Länder derzeit schwerfällt. Sonnenuntergang in paradiesischen Oasen leibhaftig erleben? Gerade eher schwierig. Wie gut, dass das mit dem gedanklichen An-andere- Orte-Beamen auch im 21. Jahrhundert noch ganz hervorragend gelingt. Die gemalten Inspirationsquellen hängen bereit. Augen auf – und fröhliche Reise!
Autor: Auktionshaus Neumeister